Psychotherapie

Das L-Wort

Judith Biberstein

Dieser Artikel wurde im IBP Magazin September 2020 unter «Was wirklich hilft» veröffentlicht.

Vor 25 Jahren nahm ich am Büchertisch einer Veranstaltung ein broschiertes Büchlein mit dem Titel «Das Kind, das eine Katze sein wollte» in die Hand (Eliacheff, 1994). Es sprach mich an. Ich gebe zu, dass ich als Kind schon – und ab und zu auch heute noch – lieber meine Katze gewesen wäre.

Try heart
«Try heart» von Judith Bärtschi

Laut Klappentext ging es um die Arbeit französischer Psychoanalytikerinnen. Sie arbeiteten in einem Säuglings­krankenhaus in Paris, in dem Babys aus prekären Familiensituationen unter­gebracht waren. Die Mütter litten unter einer Sucht, waren psychisch krank, überfordert oder selbst noch Kinder und waren unfähig, ihre Neugebo­renen ins Erdenleben zu begleiten. Die Babys zeigten massive körperliche, teils sogar lebensbedrohliche Symp­tome. Sie konnten nicht schlucken, erbrachen die Nahrung oder ihre Ver­dauung war gestört. Einige kratzten sich die Haut blutig oder schrien über Stunden hinweg bis zur totalen Er­schöpfung. Auf je eigene Weise schie­nen sie das Leben abzulehnen oder schlimmer noch, sich selbst. Die Ana­lytikerinnen wandten sich den Babys liebevoll zu. Sie redeten mit ihnen. So als würden sie die gesprochene Sprache verstehen. Sie spiegelten ihre körperlichen Leiden und verknüpften sie mit ihrem folgenschweren Start ins Erdenleben. Und siehe da: den Ba­bys ging es danach wesentlich besser.

Diese Therapie­-Geschichten rissen Wunden meiner eigenen, vergangenen Verletzungen auf. Sie weckten die Sehnsucht, jenseits der Worte verstan­den zu werden. Ich hatte den urmenschlichen Wunsch, beschützt, willkom­men geheissen und geliebt zu werden. Gleichzeitig irritierten mich die Schilderungen und ich fragte mich: «Was zum Kuckuck passiert in diesen psychoanalytischen Therapien? Wie kann dieses Vorgehen bei Neuge­borenen Wirkung entfalten? Wie kann die Sprache derart tiefgreifende Veränderungen herbeiführen?»

Veränderung

Bestimmt lesen Sie diesen Text, weil auch Sie daran interessiert sind, Wirkung zu erzielen oder Wirksamkeit zu erleben. Wer nichts bewirken kann, fühlt sich unzufrieden und da­durch verletzlich, hilflos, ausge­liefert, also ohnmächtig wie damals, als wir noch Babys waren. Selbst wenn unser Bewusstsein diese Erinne­rungen nicht zu berühren vermag, teilen wir die Erfahrung aus der ersten Zeit des Lebens mit allen an­ deren Menschen. Selbst mit denen, die später Politiker*innen oder Influ­encer*innen geworden sind.

Neulich habe ich im Internet einen Videoclip gesehen, in dem ein Chamä­leon geboren wurde. Es flutschte aus dem Mutterleib auf ein Blatt, schau­te sich kurz um und setzte sich sofort agil Richtung Ast in Bewegung. Was für ein Unterschied zu Men­schenbabys, die aus evolutionärer Sicht viel zu früh geboren werden und auf enorm viel Fürsorge und Unterstützung angewiesen sind. Diese frühe Hilf­losigkeit zu beseitigen, ist, zumindest im Erwachsenenleben, für viele von uns zunächst einfach. In der Welt der Machbarkeit scheint alles erreichbar. Wer es nicht schafft, ist selber schuld. Schliesslich gibt es Ratgeber, An­leitungen, Übungen, On­ oder Offline­ Workshops, Weiterbildungen, zum Beispiel bei IBP und vieles mehr.

Sehr oft hilft dies wirklich. Wir legen dabei alte Gewohnheiten ab, gehen Veränderungen aktiv an. Wir kommen in Bewegung, verlassen die Komfort­zone, erschliessen Atemräume, finden innere Sicherheit und Kontakt zu unserem Kern. Wir entfalten uns von Innen heraus – ein kostbares Geschenk!

Sie spiegelten ihnen ihre körperlichen Leiden und verknüpften diese mit ihrem folgenschweren Start ins Erdenleben. Und siehe da: den Babys ging es danach wesentlich besser.

Scheitern

Leider aber funktioniert dies nicht immer. Die Veränderung lässt auf sich warten und das ungute Gefühl bleibt. Repetitive Schlaufen von Vorsatz, Hoffnung und schamvollem Scheitern zermürben viele Menschen. Das trendige Outfit, die nächste Beziehung, der neue Job – immer vermeintlich neu, schliesslich doch immer gleich. Treten an Ort, drehen im Kreis: so fühlt es sich an. Und selbst wenn alles gelingt – die absolvierte Fortbildung, das ersehnte Idealgewicht, die regel­mässigen Übungen – so kommt gleich das nächste Projekt. Es ist nie genug. Die ständige Optimierung hat den Charakter von Kontrolle. «Fixed ideas», «never enough» oder «trea­ting as an object», so haben Jack Lee Rosenberg und Beverly Kitaen­-Morse, die Begründer der Integrativen Körperpsychotherapie IBP (Body, Self & Soul, 1985), die Aspekte dieses Schutzverhaltens genannt. Wenn der Kopf will, das Herz jedoch eine Gegenbotschaft aussendet, nützen weder positives Denken noch ausgeklügelte Strategien.

Eine grundlegende, verkörperlichte Ebene fürchtet die Veränderung mehr als der Geist diese will. Ist diese Ebene abgespalten, nützt keine Work­out-Disziplin und kein Bestseller­ Ratgeber. Im Gegenteil, sie erhöhen den inneren Druck und die Scham. Wer es nicht schafft, das Glück zu er­ reichen, ist selber schuld, strengt sich nicht genügend an, so die gängige Meinung.

Oft kommen Menschen aus dieser Verzweiflung heraus in ein Coaching oder eine Therapie. Sie möchten die Hilflosigkeit und Ohnmacht ablegen und wie einen alten Mantel in den Altkleidercontainer werfen.

Forschung

1995, als die Fallgeschichten aus dem Säuglingsheim mein Herz berührten, kam ich zum – zugegebenermas­sen naiven – Schluss, dass es Liebe gewesen sein musste, die gewirkt hatte. Die Analytikerinnen hatten an die Genesung geglaubt. Sie hatten die Babys im Leben willkommen ge­heissen und sie ermutigt. Das fesselte mein Interesse. Nicht nur die er­staunliche Arbeit dieser Frauen allein, sondern vielfältige Gründe motivier­ten mich wenig später für ein Psycho­logiestudium. Wer nun denkt, ich wäre dabei meiner grundlegenden An­nahme in der L-Sache auf die Spur gekommen, liegt falsch. Während der vier Jahre Aufenthalt in Hörsälen fes­selte mich eigentlich alles, was an mich herangetragen wurde. Jedoch, ich gebe es zu, unterbrach ich die Erfor­schung der Liebe als Wirkkraft. Die Therapieschulen waren damals intensiv damit beschäftigt, ihre methodenspe­zifische Wirksamkeit wissenschaftlich zu fundieren.

Als ich eine Arbeit über die Wirkfakto­ren in Mutter­-Säuglingstherapien schrieb, interessierten mich meine eigenen Narben ebenso wie die Hypothese zu den Babys im Pariser Säuglingsheim. Doch lag der Liebes­begriff, das L­-Wort, ausserhalb des Denkhorizontes eines Psychologiestu­diums. Man bedenke nur schon die Schwierigkeiten bei der Definition! Liebe als Konzept wird schnell be­liebig, dramatisiert, romantisiert oder banalisiert. Ich legte also meine Annahme zur Seite und vermied fort­an das L-­Wort, als wollte ich es davor beschützen, als unwissenschaft­lich verunglimpft zu werden. Heute, 20 Jahre später, ist der Methodenwett­kampf zwischen den Therapie­schulen müssig. Metastudien (Lambert, 2013) klärten übergreifend, welche allgemeinen Wirkmechanismen Verän­derung ermöglichen. Welche Bedin­gungen also schaffen Ihre Therapeutin, Ihr Coach oder Sie selber in dieser Rolle, um den zerschlissenen Mantel abzulegen, und sich dynamisch in andere Muster hineinzuverändern. Und genau damit scheinen wir meinen Annahmen zum L­-Wort näher zu kommen.

Es ist diese immer wieder aufs Neue zu entwickelnde Bereitschaft, sich auf die andere Person präzise einzulassen.
(Wampold et al, S. 90)

Wirk-Bedingungen

Eine Forschergruppe unter der Leitung von Wampold (2018) formulierte im sogenannten Kontextuellen Metamo­dell drei Wirkprinzipien (S. 96). Schon das erste Prinzip ist ein Voll­treffer. Es wird «echte Beziehung» genannt. Eine Überraschung ist das allerdings nicht, denn Carl Rogers hatte dies schon in den 50er­-Jahren erforscht und formuliert (Rogers, 1951). Er verstand seinen klientenzent­rierten Therapieansatz nicht als Methode, sondern als eine nicht wer­tende Haltung der Zuwendung zum Gegenüber. Es ist «diese immer wieder aufs Neue zu entwickelnde Bereit­schaft, sich auf die andere Person prä­zise einzulassen» (Wampold et al, S. 90). Authentizität, Empathie oder Attunement sind verwandte Begriffe für die Grundlage des Arbeitsbündnis­ses, das in Coaching oder Therapie auch Allianz genannt wird.

Mir fällt es nicht schwer, diesen Wirk­mechanismus in den Schilderungen der Geschichten aus dem Pariser Säu­glingsheim vorzufinden. Im Gegen­satz zum Chamäleon­-Baby durchlaufen Menschen eine komplexe Entwick­lung, bis auch sie auf Bäume klettern können. Dazu brauchen sie zuge­wandte und ausreichend feinfühlige Bindungspersonen, die ihnen emo­tionale Sicherheit vermitteln. In den Schilderungen der Geburts­-Geschi­chten der Kinder wird spürbar, wie die kind­liche Verzweiflung die Herzen der Therapeutinnen erreichte. Sie liessen sich auf diese neugeborenen Menschen ein und erreichten die Babys jenseits des wörtlichen Inhalts der Sprache. Die Verbindung stel­lten sie durch Ein­-bzw. Mitschwingen auf sensorischer und emotionaler Ebene her.

Die zweite Wirk­-Bedingung, die die Pariser Therapeutinnen für die versehrten Babys schufen, war eine Atmosphäre der Zuversicht. Sie ermutigten die Kinder, sich den Heraus­forderungen des Lebens zu stellen. Sie gaben ihnen Hoffnung. Sie glaub­ten fest an eine Veränderung. Als Erwachsene wussten sie, dass das Leben auch für Menschen mit einem beschwerlichen Start offen steht. «Po­sitive Erwartungen», so nennen die Forscher dieses auch nicht unbekannte zweite Wirkprinzip. Der Forscher Rosenthal belegte das als «Rosenthal­ oder Pygmalion­-Effekt» bekannt ge­wordene Phänomen schon 1965 empi­risch in einer Studie mit Schulkindern (Tücke 2005). Diese lösten die Test­aufgaben besser, wenn die Lehrperson ihnen dies auch zutraute. In der Therapie und Beratung ist der Placebo­ Effekt nicht Stör­-, sondern Wirkfak­tor. Es ist also grundlegend, dass der Coach oder die Therapeutin an die Wirkung ihrer Arbeit glaubt. Dann kann durch ein Abgleichungsphänomen dieser Funke auf den Klienten und die Patientin überspringen und die Zusammenarbeit befruchten.

Klingt einfach und logisch. Heute stelle ich in meiner Praxis – manchmal frustriert, manchmal demütig – fest, dass alle Erfahrung und alles Wissen um die Veränderungs­-Voraussetz­ungen oft nicht weiterhelfen. Die Arbeit an Change­-Prozessen, ob mit uns selbst oder innerhalb einer professionellen Beziehung, ist eine Gleichung mit einer Unbekan­nten, welche nicht verfügbar ist. Sie ist un­verfügbar. Hartmut Rosa ist Professor für Soziologe in Jena. Er hat den Begriff der Unverfügbarkeit (2019) erforscht und damit eine heis­se Spur für meine Forschung zum L­-Wort gelegt. Ich will dafür eine Klam­mer öffnen, bevor ich das Trio der Wirkprinzipien vervollständige.

Es ist also grundlegend, dass der Coach oder die Therapeutin an die Wirkung ihrer Arbeit glaubt. Dann kann durch ein Abgleichungsphänomen dieser Funke auf den Klienten und die Patientin überspringen und die Zusammenarbeit befruchten.

Beschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit

Rosa (2016) interessierte sich zunächst für die heute vorherrschende gesell­schaftliche Dynamik, welche Wissen erschliesst, vernetzt und verfügbar macht. Doch statt der erhofften Wirkung der Verbesserung hat diese Dynamik eine globale, brandge­fährliche Beschleunigung und kollek­tive Entfremdung verursacht. Er­ nüchtert blicken wir heute auf die Folgen der Ausbeutung von Mensch, Tier, Gesellschaft und Natur.

Nachdem Rosa diese Steigerungslogik und ihre fatalen Burnout­-Folgen auf verschiedenen Ebenen untersucht und beschrieben hatte, suchte er das Gegenprinzip. Was könnte indivi­duell und gesellschaftlich aus dem reflexartigen «Will­haben, Will­wissen, Will­besser­werden, Will­verfügen­ über» herausführen? Wer nun denkt, dass Rosa für «Weniger ist mehr» plädiert, liegt falsch. Das Gegenprin­zip von Beschleunigung ist laut Rosa nicht Entschleunigung, sondern Resonanz. Re­sonare bedeutet widerhallen, ertönen. Dazu braucht es schwingungsfähige Körper, «bei der die Schwingung des einen Körpers die Eigentätigkeit des anderen anregt» (Rosa 2016, S. 282), ohne dass ein mechanisches Verhältnis zwi­schen dem anregenden und dem an­geregten Körper vorliegt. «Reso­nanz entsteht … nur, wenn durch die Schwingung des einen Körpers die Eigenfrequenz des anderen ange­regt wird» (Rosa 2016, S. 282). Sonst wird die Interaktion zur Manipulation.

Wenn Klienten*Innen in Schwingung kommen, sich in Schwingung brin­gen lassen, verändern sie sich aus sich selbst heraus, in ihrer persönlichen Beantwortung auf das, was im thera­peutischen Aussen tönt. Wie kann die Veränderungshelferin, der Change­ Begleiter diese Entwicklung initi­ieren und fördern? Wie kommt es zu hilfreicher Resonanz, obwohl die Kli­entin in ihren alten Mustern fest­ steckt, die Grenzübung doof findet und dem Coachee der anstehende Schritt zu viel Angst macht? Oder, wenn ich mich als Therapeutin, oje, in Reso­nanz mit dem Geschehen, ebenfalls in Mustern verrannt habe?

Ich habe mir angewöhnt, so wie ich es in meiner Weiterbildung zur Inte­grativen Körperpsychotherapeutin IBP gelernt habe, zur Beobachtung meines Atems zurückzukehren. Ich suche Kontakt zu meiner emoti­onalen Zartheit und gestehe mir mein Nichtwissen ein. Ich halte alles für möglich und das Herz offen. Ich spüre meine eigenen alten Wunden und jene des Gegenübers. Über die liebe­volle Berührtheit gebe ich mir die Chance in Verbindung zu bleiben. Als «human being», statt «human doing».

Weil ich weiss, dass sich meine inne­ren Zustände immer wieder ändern, gebe ich der Veränderung immer wieder eine Chance, über­mutig, über­mütig und de­mütig. Dabei muss ich die unangenehme Tatsache ihrer Unverfügbarkeit (Rosa, 2019) akzep­tieren. Sie ist im Gegensatz zur Kontrolle eine Eigenschaft der Reso­nanz. Wenn das Blatt ein überzeugtes Grün ausstrahlt, wer weiss, viel­leicht wechselt das Chamäleon die Farbe ebenfalls – vielleicht grün, vielleicht wird es eine andere, eigene Farbe. Die Patientin wendet sich liebevoll und mutig ihren alten Verletzungen zu, der Coaching­-Kunde öffnet sich wertschätzend seinem inneren Potenzial. Dies ist der entscheidende Punkt in Prozessen, der Veränderung ermöglicht. Wenn Resonanz intrapersonell wirkt, ist die Veränderung geschenkt. Und dies (eine weitere Eigenschaft von Resonanz) ist keine Einbahnstrasse. Ich bin dann nämlich nicht nur Zeuge von Verwandlung, sondern selbst nicht mehr dieselbe wie zuvor; ich bin manchmal betroffen, manchmal berührt, manchmal klüger, auf jeden Fall aber anders.

Wenn Klienten*innen in Schwingung kommen, sich in Schwingung bringen lassen, verändern sie sich aus sich selbst heraus, in ihrer persönlichen Beantwortung auf das, was im therapeutischen Aussen tönt.

Liebe

Das dritte Wirkprinzip aus dem Kontextuellen Metamodell nennen die Forscher «Teilnahme an der Behandlung». Darunter verstehen sie das gemeinsame Arbeiten. Beispielsweise legt die Patientin mit einem Seil ihren Eigenraum, der Coachee führt ein Tagebuch, die Kli­entin anerkennt ihre Fragmentierung. Die konkreten methodischen Interventionen entfalten Wirkung, wenn die anderen Prinzipien den Boden bereitet haben. Haltung vor Handlung, oder in der Formu­lierung der Kommunikationstheorie: Beziehungsaspekte dominieren Sachaspekte (Watzlawick 2016). Mir leuchtet das ein. Die kranken Babys in ihren Bettchen im Heim in Paris brauchten keine Atemübun­gen und keine Schritte aus der Frag­mentierung, sie brauchten nicht einmal einen Zugang zum Körper, sie waren Körper. Sie brauchten Liebe. Und sie nahmen sie an.

Judith Biberstein

IBP Körperpsychotherapeutin und Lehrbeauftragte, in eigener Praxis in Bern tätig.

Literaturhinweise